Das Zeltproblem

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Eberhard Köbel alias Tusk schreibt in der Zeitschrift "Das Lagerfeuer" Nr. 1 im Januar 1931 folgendes über seine Überlegungen für ein praktisches Feuerzelt...

Du hast recht, wir haben gefroren heute nacht, wir waren steif und müd, als wir erwachten, wir standen länger als nötig ums Feuer, bevor wir das Zelt abbrachen, und marschierten dann weg in der Hoffnung, so unsere Glieder langsam wieder warm zu bekommen. Wäre es noch kälter gewesen, so hätten wir vielleicht mitten in der Nacht aufstehen, im schwarzen rauschenden Wald herumtapsen und dürres Holz suchen müssen, um uns ein Feuer zu machen. Wir hätten uns geärgert, daß unser Schlaf unterbrochen wurde, und wir hätten gar keinen Triumph gehabt. Vielleicht den, daß wir dieser kalten Nacht getrotzt haben, und damit hätten wir uns nachher vielleicht großgetan. Besiegt haben wir sie aber nicht. Ja, unsere Zelte sind ja nur ärmliche Unterschlüpfe. Es sind notdürftige Schlafzellen, in denen wir nicht länger bleiben als nötig. Wir sind nicht in ihnen zu Hause. Und ich will ja auch gern zugeben, obwohl ich viel größer und stärker bin als du, daß wir am Sonntagabend alle heimgezogen sind mit dem Gedanken: ich freue mich auf ein warmes Zimmer und auf ein Bett. Und doch hat's keiner ausgesprochen, weil er nicht schwach sein wollte.

Da fällt mir etwas ganz anderes ein: eine Winternacht im höchsten Norden. Vor mir zieht wie ein Schatten mein Freund. Der Schnee rauscht, bisweilen klappert ein Schneeschuh am ändern oder stößt einer unserer Skistöcke an einen Stein. Wir ziehen schweigend hintereinander her. Um uns ist alles grau. Rechts wissen wir in der Nacht einen Berg. Wir zwei haben verschiedene Muttersprachen, sind körperlich fast so verschieden gebaut wie Spitz und Pudel, und haben doch - er in seiner zischelnden, quäkenden Sprache und ich in der meinen - die gleichen Gedanken: in einer halben, in dreiviertel Stunden die Kohte, das Lappenzelt. Und so zogen wir müde durch den Schnee, brauchten uns nicht zu verständigen, wußten uns so einig wie zwei heimkehrende Pferde am Wagen. Und als wir schließlich den kleinen Abhang hinabglitten, an dessen Fuß aus einem großen, schwarzen Etwas Feuerschein und Gelächter drang, wußten wir: Jetzt ist alles gut. Jetzt kommt das Schönste, das es auf der Erde gibt: müde und hungrig mit frostigen Gesichtern durch die Klapptüre zu treten, sich nach herzlichen Grüßen auf die weichen Felle niederzulegen und ohne die Verpflichtung, ein Wort zu sagen, süßen Kaffee zu empfangen und Essen. Wir stellten die Schneeschuhe aufrecht in den Schnee und hörten, wie sie drinnen sagten, daß wir kämen. Als wir am Feuer saßen, erwachte unweigerlich wie jeden Winterabend im Lappenzelt die gemütlichste Stimmung. Dazu half alles: das lustige Gequassel des Mädchens, ein Seufzer eines schlafenden Hunds, der brodelnde Kessel und das Feuer, das Feuer. Ich dachte während dieser Nomadenzeit so manches Mal, es werde ja unmöglich sein, jemals Tage, Wochen ohne freies Feuer zu erleben.

Aber diese Stimmung kann ich dir nicht beschreiben. Der mörderische Winterwald schweigt. Vielleicht fällt ein Schneekuchen von einer Tanne, vielleicht kracht auch ein Baum vor Kälte. Schritte werden kaum kommen. Der Wald wird winters nachts gemieden. Wilde Tiere wirst du nicht hören, denn sie sind weggezogen oder scheu. Das mußt du selbst erleben. Wir haben hin und her gegrübelt, wie wir oft Nächte im Feuerzelt erleben können. Als ich einmal vom Norden kam, haben wir Stuttgarter eine Kohte gebaut. Wollten sie mitnehmen auf Fahrten und Lager. Wir wollen einen kleinen Ersatz dafür haben, daß wir nicht so glücklich sind, als Lappen oder Indianerjungen zur Welt gekommen zu sein und das Feuer als eine Selbstverständlichkeit mit uns zu führen wie unser Messer. Das Zelt, in dem wir unsere Feuernacht verleben wollten, mußte sein:

  • möglichst leicht
  • möglichst geräumig
  • leicht aufstellbar
  • leicht zu verpacken

Wir dachten zuerst daran, die geniale lappische Kohtenkonstruktion zu übernehmen. Sie ist so: zwei aus starkem Holz gebogene Parabelbögen werden mit ihren Enden in die Erde gesteckt, so daß immer ein Ende des einen bei einem Ende des anderen ist. Sie werden gleichmäßig mit den Scheiteln voneinander weggeneigt. Die beiden Scheitel sind mit einer starken Stange verbunden. Nun werden rings an die Parabelbögen Stangen gelehnt, die mit dem Ende, das auf der Erde steht, einen Kreis bilden. Die Neigung der Stangen ist die gleiche wie die der Parabelbögen. Der geometrisch Gebildete weiß, daß dann ein ganz besonders „idealer" Fall entsteht: ein Kegel (das Zelt) wird von zwei Ebenen, die je einer Mantellinie parallel laufen, in zwei Parabeln geschnitten. Die Parabelbögen, die wir immer lappisch „otnoris" nannten, sind je aus zwei Teilen zusammengesetzt, die aus gerade gewachsenen Birken gebogen werden. Ein zweites Wunder ist, daß fast genau eine halbierte Parabel entsteht, wenn man den Stamm eines gerade gewachsenen Baums nach der Seite biegt. Diese Bauart ist jahrhundertelang von den wunderlichen Nomaden verwendet worden, ist etwas derartig Einfaches und denkbar Praktisches, daß man darüber nur staunen kann. Nicht jeder Ingenieur hätte die Aufgabe eines freitragenden, runden Spitzzeltes mit möglichst wenig Baumaterial so großartig gelöst wie diese Wilden, die zwar schon mit sechs Jahren eine Sprache sprechen, die die unsrige fast um das Doppelte an Ausdrücken übertrifft, die aber von allen Missionaren, Ärzten und Verwaltungsbeamten als dumm bezeichnet werden.

Auf der Wanderung haben es die Nomaden nicht schwer, die Otnorisse mitzuführen. Sie hängen sie im Sommer, wenn es keinen Schnee gibt, mit den stark gebogenen Enden rechts und links an einen Rentierrücken und schleifen die Spitzenenden nach. Ebenso machen sie es mit den Zeltstangen. Im Winter ist es noch einfacher. Da wandert man mit Schlittenzügen von sechs bis sieben Schlitten, die zur Kette zusammengebunden sind: Rentier - Schlitten - Rentier - Schlitten - Rentier - Schlitten. Fürs Zeltgestänge benützen sie ein kleines Fahrgestell, den „rachppo", an dem sie das ganze Bündel mit dem einen Ende festbinden und als Abschluß des Schlittenzuges nachschleifen lassen. Als wir durch einen steinigen steilen Wald auf der Herbstwanderung zu Tale fegten und jeder Schlitten das nachfolgende Rentier, das an ihm angebunden war, zum wilden Galopp zwang, riß an einem Felsen der „rachppo" ab. Durch den Ruck wäre dem Rentier fast der Kopf vom Hals gerissen worden. Und obwohl ich, der ich auf solche Unglücksfälle zu achten hatte, das sofort bemerkte, mußten wir noch ein großes Stück weiter den Berg hinunterfahren, bis wir endlich die Kette zum Stehen brachten. Der fünfjährige Peter-Niels, der im zweiten Schlitten wohlverpackt saß, heulte herzzerreißend in den stummen Wald hinaus.

Aber wenn wir in Stuttgart eine Kohte bauen wollten, dann müßten wir sorgen, daß wir in der Eisenbahn die Teile mitführen könnten, denn anders können wir nicht zu unsern Lagerplätzen kommen. Und da war es schon ganz unmöglich, „otnorisse" herzustellen, die in so kleine Teile zerlegt werden können, daß sie die Eisenbahn zuließ. Drum bauten wir unsere Kohte nach einem anderen lappischen Rezept, nach dem die Wächterzelte oft gebaut werden. Man schnürt aus vielen Zweigen einen großen Reif, der zur Stütze oben in das Zeltgebäude hineingebunden wird. Das war keine gute Lösung, denn der Bau der Kohte brachte so viel Mühe und der Wind verbog sie oft bedenklich. Wir nahmen grüne Zweige, die elastisch und steif waren, zum Ring. Wenn nun darunter das Feuer brannte, verbog sich auch noch der Ring, und die Kohte wurde immer jämmerlicher, je länger sie stand. Das Tuch bestand aus einem Stück, das allerdings lange nicht so schwer war, wie wir uns dachten, und hatte die Form eines Napfkuchens, aus dem ein Drittel schon herausgeschnitten ist. Die Zeltstöcke konnten auseinandergenommen werden und waren ein eisenbahnfähiges, aber schweres Bündel. Die Tür war echt lappisch, ein Dreieck, das mit kleinen Leisten versteift war. Sie konnte aufgerollt werden wie eine Baderolle und trug das Zeichen unseres früheren Bundes, die Freischarlilie. Natürlich hatten wir das Zelttuch in schönen Farben zusammengenäht (allerdings mit weiblicher Hilfe). Der Entwurf entsprang einem Wettbewerb innerhalb der Stuttgarter Gruppen. Aber das Problem war mit der Kohte noch nicht gelöst.

Zu gleicher Zeit ging eine Berliner Gruppe von anderer Seite an das Problem heran. Sie lehnten sich ans Indianertipi an. Es wird mit einer Anzahl sehr langer Stangen, die in bestimmter Höhe zusammengebunden sind, geformt. Auch sie hatten Verpackungsschwierigkeiten und konnten ihr Zelt nur an wenigen einsamen Stellen, an denen sie immer Stangen versteckt hielt, bauen. Also auch keine bessere Lösung. Wir haben weitergedacht und weitergesonnen und hoffen uns nah am Ziel. Wir glauben, daß wir eine große Erfindung gemacht haben. Es ist eine Zeltbahn, die größer ist als die ändern, und mit der man leicht und rasch ein Feuerzelt bauen kann. Wir haben vorerst nur Versuchsstücke. Sobald diese erprobt sind und die Zeltbahn hergestellt wird, werden wir hier im „Lagerfeuer" eine Beschreibung geben.

Ja, wir glauben, daß es eine Erfindung ist, wie damals die Erfindung, daß man nicht unbedingt ein Bett zum Schlafen brauchte, sondern auch in der Scheune übernachten könne. Oder wie die Erkenntnis, daß ein Bund von Gleichgesinnten auch die gleiche Tracht haben müsse. Dörferweise werden im kommenden Jahr in einsamen Waldwinkeln die farbigen, rauchenden Kohlen beieinanderstehen. Drinnen wird man noch lieber sein als draußen. Man wird sich freuen, wenn es regnet oder schneit, denn es wird dann im Feuerzelt um so gemütlicher.

Der Text wurde uns freundlicherweise vom Verlag der Jugendbewegung zu Verfügung gestellt und ist wiederveröffentlicht in tusk - Gesammelte Schriften und Dichtungen